Schรถnebecker Thesen zur intensivierten geriatrischen Versorgung
- Der demografische Wandel bedingt die Stรคrkung bestehender und die Schaffung neuer Strukturen in der ambulanten geriatrischen Behandlung, wenn die Ansprรผche โRehabilitation vor Pflegeโ und โambulant vor stationรคrโ fรผr die medizinische Versorgung der รคlteren Bevรถlkerung in unserer Gesellschaft umgesetzt werden sollen. Ziel ist es eine vernetzte und abgestufte geriatrische Versorgungsstruktur ambulant โ teilstationรคr โ stationรคr flรคchendeckend aufzubauen.
- Der multidimensional geschรคdigte Mensch hat Anspruch auf eine seinen Bedarfen entsprechende Komplexbehandlung. Solche Behandlung muss auch fรผr geriatrische Patienten vor Ort durch ein therapeutisches, interdisziplinรคres, รคrztlich geleitetes Team mรถglich sein. Allgemein anerkannt ist, dass bereits jetzt eine Unter- und auch Fehlversorgung in der Geriatrie
- Eine komplexe Behandlung geriatrischer Patienten muss einen ganzheitlichen, integrativen Ansatz verfolgen, der sowohl prรคventive als auch rehabilitative Elemente enthรคlt. Der ganzheitliche, integrative Ansatz bezieht das soziale Umfeld des geriatrischen Patienten/der geriatrischen Patientin in die unterschiedlichen Elemente der Therapie mit
- Ein solcher ganzheitlicher Ansatz bedingt die Stรคrkung und den Ausbau von ambulanten Strukturen in unterschiedlichen und flexiblen Formen als wohnortnahe geriatrische Schwerpunktpraxen. Die gewรคhlten Formen orientieren sich am Versorgungsbedarf vor Ort. Unterschiede zwischen dem urbanen und dem lรคndlichen Raum ist dabei zu berรผcksichtigen.
- Derzeit gibt es bereits verschiedene Studien, die die Effektivitรคt geriatrischer Komplexbehandlung zur Sicherung der Teilhabe von รคlteren komplex geschรคdigten Menschen
- Die ambulanten geriatrischen Rehabilitationseinrichtungen und geriatrischen Schwerpunktpraxen in Bundesrepubliken, vertreten durch den Bundesverband Geriatrischer Schwerpunktpraxen e.V. (BUGES) โ fordern eine gesetzliche รnderung im SGB V unter Berรผcksichtigung des SGB XI. Diese รnderung soll den Anspruch รคlterer komplex geschรคdigter Menschen auf eine wohnortnahe, intensivierte geriatrische Versorgung im therapeutischen Team beinhalten und somit im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung enthalten sein.
- Ziel dieser Gesetzesรคnderung ist es, eine nachhaltige, bundesweite ambulante Versorgung in der spezialisierten Geriatrie aufzubauen, um die Teilhabe an der Gesellschaft fรผr Seniorinnen und Senioren
- Unter der Annahme flรคchendeckender ambulanter Versorgungsstrukturen in einem Umkreis von jeweils 30 โ 40 km pro Zentrum, der derzeitigen Bevรถlkerungsstruktur (Altersstruktur, Verteilung), den Erfahrungen aus bestehenden Einrichtungen und den derzeitigen Kosten wรผrde von einem Bedarf von bundesweit ca. 1.500 entsprechender geriatrischer Schwerpunktpraxen mit einem Kostenvolumen von ca. 750 Mio. Euro auszugehen sein. Somit wรคre mit einem relativ geringen Finanzvolumen eine enorme Verbesserung fรผr die Patientengruppe
Hintergrund der Fachtagung
Der mediale und gesellschaftliche Diskurs zum Thema Pflege hat deutlich an Dynamik gewonnen. Die Zahlen, die der demografische Wandel in Aussicht stellt, deuten auf eine weitere Verschlechterung der Pflegesituation in der Bundesrepublik Deutschland hin. Die Bevรถlkerung altert, auch bedingt durch den medizinischen Fortschritt stetig, was mit der Zunahme von Krankheitsfรคllen im hohen Alter und Multimorbiditรคt verbunden ist. Eine direkte Folge ist die Zunahme an Pflegefรคllen. Gleichzeitig mangelt es an jungen Bevรถlkerungskreisen, die die immer รคlter und pflegebedรผrftiger werdenden Mitbรผrger*innen fachgerecht betreuen kรถnnen. Die Bertelsmann Stiftung prognostizierte in ihrem โPflegereport 2030โ aus dem Jahr 2012, dass die Anzahl der Pflegebedรผrftigen bundesweit bis zum Jahre 2030 um 50 Prozent steigen wรผrde. Diesem Pflegenotstand, das heiรt, der nicht mehr adรคquaten Pflegeversorgung, Herr zu werden, stellt eine groรe Aufgabe dar. Bundesinitiativen richten sich derzeit vor allem dahingehend, den Pflegeberuf attraktiver zu machen.
Das Bundesgesundheitsministerium hat eine mehrschrittige Strategie entwickelt, dem Pflegenotstand entgegenzuwirken. So beabsichtigt man, in der sogenannten โKonzertierten Aktionโ bessere Arbeitsbedingungen fรผr Pflegekrรคfte zu schaffen sowie Pflegekrรคfte dazu zu ermuntern, in den Job zurรผckzukehren oder in Vollzeit zu arbeiten. Die Ausbildung im Pflegebereich soll flexibilisiert und damit attraktiver werden, neue Stellen geschaffen und besetzt sowie Personaluntergrenzen erschaffen werden, um รberlastung zu verhindern und Arbeitsbedingungen fรผr die Pflegekrรคfte zu verbessern.
So richtig und wichtig diese Elemente sind, um die Pflegeversorgung kurz-, mittel- und langfristig zu verbessern und zu sichern, setzt sie doch nur auf die Verbesserung des Fachkrรคfte- und Arbeitskrรคftereservoirs. In Anbetracht des Personalmangels in vielen anderen Beschรคftigungsfeldern und der im รผbertragenden Sinne โzu knappen Tischdeckeโ, die letztlich an allen Seiten zu kurz ist, sollten diese Maรnahmen flankiert werden. Es mรผssen Mittel und Wege gefunden werden, um die Anzahl der Pflegefรคlle zu verringern. Um im Bild zu bleiben: Wenn die Tischdecke nicht groร genug ist, mรผsste der Tisch kleiner sein.
Das Kompetenzzentrum soziale Innovation Sachsen-Anhalt (KomZ) als Multiplikator von Innovationsprozessen, widmete sich zusammen mit dem Ambulant Geriatrischen Rehakomplex (AGR) Schรถnebeck/ Bad Salzelmen (vertreten durch Dr. med. Burkhard John) diesem Thema in einer zweitรคgigen Veranstaltung. Am Freitag, dem 28. Juni 2019 und am Samstag, dem 29. Juni 2019 stand der innovative Ansatz der ambulant-geriatrischen Komplexbehandlung im Fokus.
Derzeit sieht die deutsche Sozialgesetzgebung im vertragsรคrztlichen Bereich keine verpflichtenden ambulanten Strukturen fรผr komplexe geriatrische Versorgungsansรคtze vor. In der Folge sind es Einzelfallentscheidungen, die รผber die Behandlung sowie deren Finanzierung in einem AGR bei zunehmenden Einschrรคnkungen der Alltagskompetenz und nach Krankenhausaufenthalten, wie zum Beispiel nach Knochenbrรผchen in Folge von Stรผrzen, befinden. Der AGR Senioren Rehakomplex in Schรถnebeck/ Bad Salzelmen setzt dieses, zwar nicht ganz neue, aber unter den Vorzeichen des Pflegenotstandes hochaktuelle Konzept seit 20 Jahren um:
Patient*innen ab zirka 70 Jahren, die ambulant rehabilitationsfรคhig sind, werden anstatt in weit entlegenen Rehakliniken stationรคr, wohnortnah (Umkreis 40 Minuten Fahrtzeit), ganzheitlich betreut und nach etwa 20 Tagen wieder in die hรคusliche Umgebung entlassen. Der tรคgliche Transfer wird durch das Schรถnebecker AGR gewรคhrleistet. Im Mittelpunkt steht der Gedanke der Komplexbehandlung. Es werden allgemeinรคrztliche, ergo- wie physiotherapeutische, logopรคdische und pflegerische Behandlungsmaรnahmen angeboten und durch einen Gruppenansatz die soziale Teilhabe der Patient*innen gestรคrkt. Alle Behandlungsmaรnahmen werden individuell sowie durch รคrztlichen Befund auf die Patient*innen angepasst. Das Innovative an diesem Ansatz ist, dass die individuellen Therapieplรคne zentral, wohnortnah und in einem stabilen sozialen Umfeld durchgefรผhrt werden. Diese integrative und ganzheitliche Behandlungsform hat Auswirkungen auf den Genesungsprozess und verringert oder vermeidet in der weiteren Perspektive Pflegebedรผrftigkeit. Dies wiederum kann dazu fรผhren, dass ein lรคngeres selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wรคnden ermรถglicht wird und dem Pflegenotstand entgegengewirkt werden kann.
Um diese Herausforderungen gemeinsam zu meistern, kamen in Schรถnebeck Betreiber*innen ambulante geriatrischen Einrichtungen aus dem ganzen Land zusammen. Gemeinsam mit Vertreter*innen aus Politik und Verwaltung, Wissenschaft und Gesundheitssektor, wie dem Vorstand Stefan Folberth, des Bundesverband geriatrische Schwerpunktpraxen e.V. (BUGES e. V.) wurden die oben dargelegten Herausforderungen diskutiert und Thesen erarbeitet. Der BUGES e.V. versteht sich als Vertretungsorgan von Patient*innen und Praxen, fรผhrt ihre gemeinsamen Interessen zusammen und vertritt diese auf politischer wie regionaler Ebene. In diesem Zusammenhang setzt sich der BUGES e.V. aktiv fรผr das Konzept der ambulanten Geriatrie ein, macht sich politisch dafรผr stark, finanzielle Anreize zu setzen, um eine ambulante geriatrische Praxis wirtschaftlich betreiben zu kรถnnen.